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Fachbeitrag: Ist der Rebound-Effekt unvermeidbar?

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Warum liegen tatsächliche Energieverbräuche oft deutlich über den berechneten? In ihrem Fachbeitrag liefern Dr. rer. nat. Franz Peter Schröder und Diplom­-Betriebswirt (BA) Christopher Intsiful Erklärungen und mögliche Lösungsansätze.

Der Beitrag ist zuerst in der GI 6/18 erschienen.

Dämmung und Versiegelung von Gebäudehüllen gemäß EnEV-Baustandards haben nicht zu den angestrebten Fortschritten an Energieeffizienz geführt. Der mittlere Energieverbrauch hat sich bis zur EnEV 2002 um ca. 50 % reduziert, rechnerisch wurden eher 75 – 80 % erwartet [1]. Gleichzeitig verteuert jede Verschärfung der EnEV-Vorgaben die Schaffung neuen Wohnraums [2]. Um dringend benötigte Wohnungsneubauten zu sozialverträglichen Kosten zu ermöglichen und gleichzeitig die Klimaziele nicht aus den Augen zu verlieren, ist es wichtig, das Nutzerverhalten in modernen Wohnumgebungen zu verstehen. Technische Maßnahmen zur Energieeinsparung sind nur dann erfolgversprechend, wenn sie den höchst variablen Bedürfnissen der Wohnungsnutzer nach Behaglichkeit individuell Rechnung tragen [3].

1. Einleitung

In einer Forschungskooperation zwischen Wohnungswirtschaft, zwei Hochschulen und einem Wärmedienst wurde untersucht, warum die tatsächlichen Energieverbräuche so deutlich über den berechneten liegen [4].

Hierzu wurden sechs baugleiche Wohnhäuser über mehrere Jahre betrachtet. Jedes Einzelgebäude besitzt etwa 600 m² Wohnfläche, 750 m² Nutzfläche verteilt über drei Stockwerke und ein teilweise öffentliches Kellergeschoss (siehe Bild 1 und Bild 2). Acht Wohnungen verteilen sich mit je ca. 40, 70 bzw. 90 m² auf die beiden oberen Etagen; die beiden Wohnungen im Erdgeschoss sind je etwa 100 m² groß. Die Fassaden besitzen je 55 Glasfronten – 22 südwärts, 16 nordwärts, acht westwärts und neun ostwärts ausgerichtet. Innenraumtemperaturen wurden von Herbst 2012 bis Spätsommer 2013 im Stundentakt aufgezeichnet [4], Heizenergie­ und Warmwasserverbrauch sechs Jahre lang seit Herbst 2011 (und fortlaufend) in einem monatlichen, energetischen Monitoring erfasst.

  • EnEV 2009 Konformer Gebäudetyp B1
  • Südfassade Neubauten B2
  • Bild 1: EnEV-2009 konformer Gebäudetyp einer städtischen Münchner Wohnungsbaugesellschaft, gebaut 2010. Jeder Block enthält 600 m² Wohnfläche in acht Wohneinheiten auf drei Etagen bei 750 m² umbauter Nutzfläche.

  • Bild 2: Südfassade der untersuchten Neubauten inkl. ungefährer Abgrenzung der je acht Wohneinheiten (mit Wohnflächen- angabe in m²). Eine Fenster-/Türfront gilt statistisch als „offen“, sobald mindestens ein Fenster einer Front geöffnet ist.

Bild 3 zeigt zunächst die täglichen Mittel der Wohnraumtemperaturen TL der etwa 120 Messstellen in 48 Wohnungen inklusive der Standardabweichungen, und zwar in Abhängigkeit von der mittleren Tagesaußentemperatur TA. Hier ist veranschaulicht, dass die mittleren Raumtemperaturen TL über einen weiten Bereich von Außentemperaturen TA unterhalb von 14 °C nie einen Komfortbereich von 21 – 22 °C unter­ schreiten, egal wie weit die Außentemperaturen absinken.

Lediglich die Standardabweichungen von TL erhöhen sich noch marginal, das heißt es existieren vereinzelt noch leicht kühlere oder aufgeheizte Wohnungen, respektive Einzelräume, zwischen etwa 18 und 24 °C. Erwähnenswert ist weiterhin, dass bis in die Sommermonate hinein, also bei mittleren Außentemperaturen über etwa 14 °C hinaus, die Raumtemperaturen TL permanent um 4 – 5 K über den Tagesmitteltemperaturen liegen (siehe Diagonale rechts unten in Bild 3). Dadurch wird sichtbar, dass durchgehend Energieeinträge in den Wohnungen vorliegen müssen, entweder durch Heizenergie oder durch innere Wärmegewinne (wie Solareinstrahlung) oder durch beides parallel.

Mittlere Tages Raumtemperaturen B3

Bild 3: Mittlere Tages-Raumtemperaturen TL (Punkte schwarz) inkl. Standardabweichungen (rote Linien) über sechs Gebäude (48 Wohnungen) versus Tages-Außenmitteltemperatur TA. Datenbasis: Stundenmittel der Temperaturmessungen zwischen Oktober 2012 und September 2013.


2. Heizung

Bild 4 zeigt die mittleren Heizenergieeinträge pro Wohnung und Monat, die sich auf gut 5 MWh direkt über die Heizflächen plus schätzungsweise weitere 2 MWh über den Warmwasserkonsum belaufen (jeweils als Summen über die Saison). Der reine Heizenergieverbrauchskennwert erreicht dabei witterungskorrigiert knapp 65 kWh/(m²a) und liegt nahe des postulierten Endenergiebedarfs (gemäß EnEV, graue Linie). Allerdings verteilen sich die realen Heizenergieanteile weit breiter über die Saison zwischen Früh­ und Spätsommer, mindestens von September bis Juni, wogegen gemäß der Normbedarfsberechnung die Heizsaison bestenfalls zwischen Oktober bis etwa Mitte/Ende April stattfinden sollte [5].

Hinzu kommt ein Wärmeeintrag in die Gebäudehülle über den (relativ hohen) Warmwasserkonsum von durchschnittlich über 40 m³ pro Wohnung und Jahr und relativ gleichverteilt über die Saison. Der gesamte Energieeinsatz für Trinkwassererwärmung (TWE) liegt entsprechend relativ hoch bei gut 52 kWh/(m²a) und variiert saisonal zwischen 3,5 kWh/(m²/Monat) im Sommer und 5 kWh/(m²/Monat) im Hochwinter. Die TWE liefert somit durchgehend einen Sockelbetrag zur Erwärmung der Gebäudehülle (siehe Bild 4), der über die Nutzbarkeit anderer Wärmegewinne (Sonneneinstrahlung, Elektrogeräte etc.) mitentscheidet. Dieser hat aber außerhalb der Heizsaison keinen positiven Nutzen.

Zusammenfassend erinnert das saisonale Profil an eingebrachter Heizenergie an thermisch weit schlechter isolierte Altbauten. Der faktisch realisierte mittlere Heizenergieverbrauch entwickelt sich nachhaltig gegen im Mittel etwa 90 – 95 kWh (m²a), das heißt etwa ein Viertel bis ein Drittel über die kalkulierten EnEV-­Bedarfswerte hinaus.

Saisonale Verteilung mittlerer Heizenergiekonsums B4

Bild 4: Saisonale Verteilung des mittleren Heizenergiekonsums pro Wohnung in den sechs EnEV-2009-konformen Gebäuden; rot: mittlerer Energieeintrag über Heizkörper; lila: anteiliger mittelbarer Heizenergiebeitrag über konsumiertes Warmwasser (75 % der TWE).

3. Lüftung

Parallel zu den Raumtemperaturen TL wurden auch die Fensteröffnungsraten erfasst, das heißt stundenweise systematisch in den Jahren 2012 und 2013 sowie sporadisch und stichprobenartig in der Zeit danach. Bild 5 illustriert, analog zu Bild 3, die prozentualen mittleren Fensteröffnungsraten an 365 Tagen in Abhängigkeit von der Außentemperatur TA. Die 365 Tageswerte (schwarze Punkte) ergeben sich aus den effektiven Mittelwerten von stündlichen Messungen an den Fensteröffnungskontakten. Sie werden ergänzt mit einzelnen, direkten Stichprobenzählungen offener Fensterfronten in den Folgejahren (orange Symbole).

Die Fensteröffnung stagniert auch im Hochwinter bei den kältesten TA nicht unter 7 – 8 %, überschreitet 10 % ab TA = 5 °C, 20 % ab etwa TA = 10 °C, typisch in Mai und September und bis weit über ein Drittel hinaus im Sommer (Juni – August). Das bedeutet: Im Hochwinter, also Dezember bis Ende Februar, steht statistisch jede fünfzehnte Fensterfront zur Belüftung durchgehend offen. In den Übergangsmonaten März, April, Oktober und November ist es jedes zehnte Fenster, ab Mai und bis Ende September mindestens jedes fünfte.

Mittlerer prozentualer Anteil geöffneter Fenster Türen B5

Bild 5: Mittlerer prozentualer Anteil geöffneter Fenster (und Türen) versus mittlerer Außentemperatur TA; schwarze Punkte: Tagesmittel über sechs Gebäude (48 Wohnungen und Treppenhäuser, 2012/13); rot: gleitendes Mittel über je zwölf Tage mit vergleichbarer Außentemperatur; orange: fallweise Einzelzählungen offener Fensterfronten (2016 – 2018).

Nachmittags wird am meisten gelüftet

Die singulären Beobachtungen offener Fenster in den Folgejahren nach 2015, vorzugsweise im Hochwinter zwischen November und März, bestätigen die Erkenntnisse des relativ kurzen ursprünglichen Messprojektes als nachhaltigen Zustand und sind ergänzend in Bild 5 integriert. Die tageszeitlichen Variationen der Fensteröffnungsraten werden zusätzlich in Bild 6 dargestellt, hier zusammengefasst und beschränkt auf die Hauptheizperiode von November bis einschließlich März. Gezeigt wird damit die statistische Verteilung der manuellen Lüftungstätigkeit, täglich gemittelt sowie differenziert aufgelöst für vier je sechsstündige Zeitintervalle und repräsentativ für die Hauptheizsaison. Während dieser Zeit unterschreiten die typischen Außentemperaturen meist 10 °C und es fällt durchschnittlich mehr als 85 % des jährlichen Heizenergiekonsums an.

Die Modalwerte der Kurven weisen auf mindestens 5 – 10 % dauerhaft geöffnete Fenster oder Balkontüren hin. Die niedrigsten Werte treten nachts auf, während am Nachmittag am meisten gelüftet wird. Die Schwerpunkte der Verteilungen variieren für vier Tageszeiten (vier 6-­Stunden­-Intervalle) um einen Faktor zwei, zwischen etwa 6 % und 12 %. Durchgehend 10 % offene Fenster im Winter erscheinen als viel, speziell im Hinblick auf den hohen Aufwand, der den Vorschriften gemäß der EnEV 2009 nach betrieben werden muss, um hohe thermische Isolationsstandards für Gebäudehüllen zu realisieren [5]. Obwohl es nicht möglich ist, die Rate offener Fenster direkt in Beziehung zu setzen zu konkreten Luftwechselraten, kann vermutet werden, dass die permanent hohen Öffnungsraten die maßgebliche Energiesenke für die Gebäude ausmachen und die wesentliche Ursache des Rebound-­Effektes – also des mengenmäßigen Unterschieds zwischen den möglichen Ressourceneinsparungen, die durch bestimmte Effizienzsteigerungen entstehen, und der tatsächlichen Einsparungen [6] – darstellen.

Tageszeitliche Variabilität manuelle Fensteröffnungs Häufigkeit B6

Bild 6: Tageszeitliche Variabilität der manuellen Fensteröffnungs-Häufigkeit in den sechs EnEV-2009-Gebäuden mit zusammen 48 Wohnungen in der Winterperiode November 2012 bis März 2013. Die Verteilungen sind gemittelt über alle stündlichen Messungen und differenziert zusammengefasst nach vier sechsstündigen Tageszeitintervallen. Der mittlere effektive Wert erreicht annähernd 10 %.


4. Diskussion des Rebound-Effekts

Zusammen mit den Bilanzierungen des Heizenergiekonsums impliziert das beschriebene mittlere Lüftungsverhalten, dass in den Häusern – hauptsächlich wohl neben der Hauptheizsaison während der Übergangszeiten in April, Mai, September und Oktober – substanzielle Mengen an (kostenpflichtiger) Heizenergie über den theoretischen Bedarf hinaus in die Gebäudehülle aufgenommen und ein mittlerer Anteil von etwa 16 MWh/Gebäude/a (2 MWh pro Wohnung) als temporär nicht nutzbare Heizenergie via Fensteröffnung wieder abgelüftet werden muss, um die Balance des beobachteten Zustandes herzustellen. Dabei liegt der theoretische Heizenergiebedarf nach EnEV bei etwa 44 MWh/Gebäude/a (5,5 MWh pro Wohnung), der beobachtete reale Verbrauch dagegen nahe bei 60 MWh/ Gebäude/a (7,5 MWh pro Wohnung). Dies folgt aus den Analysen, das heißt dem energetischen Begleitmonitoring der Feldmessungen (siehe Bild 4) im Vergleich mit der objektbezogenen Energiebedarfsberechnung [5].

Die ausschlaggebenden Fragen sind:

  • Warum finden wir so häufig in modern isolierten Gebäudefassaden weit geöffnete Fensterfronten vor? Müssen wir davon ausgehen, dass gerade diese Konstellation einen bevorzugten Wohnkomfort erzeugt?
  • Wie beeinflusst die Fensteröffnungspraxis konkret das menschliche Behaglichkeitsempfinden?
  • Ist der beschriebene Effekt auf ein Fehlverhalten der Nutzer zurückzuführen oder ist er unwillkürlich und unvermeidlich?

Gängige Auffassungen in der Wohnungswirtschaft deuten bei Problemen mit dem Heizsystem meist auf zwei schlechte Typen von Wohnungsnutzern: Solche, die außergewöhnlich hohen Energieverbrauch verursachen, also Verschwender, und jene, die kaum oder keine erfasste Heizenergie verbrauchen und als Trittbrettfahrer und Schimmelzüchter missbilligt werden. Zudem unterliegt heutigen Baustandards die Vorstellung von überall hohen Raumtemperaturen als erstrebenswertem Komfort. Moderate bis geringe Temperaturen werden dagegen als Mangel aufgefasst. Solch vereinfachende Ansichten unterstellen schlechte Vorsätze oder menschliche Stereotypen, lenken oft von technischen Unvollkommenheiten ab und verstellen den Blick auf eine weit höhere Komplexität von Wohnszenarios verschiedener Bewohnertypen mit ihren unterschiedlichen und wechselnden Komfortbedürfnissen. Diese unterliegen nicht nur historischem Wandel, sondern weisen mitunter deutliche regionale Unterschiede auf und hängen von den individuellen Erfahrungen der Bewohner ab. Folgende Typologie wurde beispielsweise von [2] entwickelt:

  • Eisbären: Menschen mit deutlich reduzierten Wohlfühltemperaturen
  • Sparfüchse: Personen, die es gern wärmer hätten, aber sparen wollen/müssen
  • Lüftungsfanatiker: oft Raucher
  • Ofenanbeter: Menschen mit deutlich erhöhtem Wärmebedarf
  • Kontrollfreaks: Personen, die erheblichen Aufwand mit Messung und Einstellung betreiben

In der großen Varianz von Komfortbedürfnissen der Haushalte kann daher eine kühlere Wohnung durchaus als angenehm oder optimal empfunden werden [2]. Eine zu warme Wohnung kann andererseits durchaus auch Diskomfort bedeuten. Heutige Baustandards, denen eine Behaglichkeitsnorm von 20 – 21 °C zugrunde liegt [7], bewirken höhere und homogenere Innenraumtemperaturen, wie die vorangegangenen Beobachtungen belegen. Dadurch geht in modernen Wohnumgebungen die klassische Diversität möglicher Komfortszenarios schrittweise verloren. Dies liegt auch darin begründet, dass in Altbauten ein größerer Temperaturgradient zwischen Außenwänden und Raumluft besteht und sich folglich stärkerer kontinuierlicher Wärmefluss ausbildet.

Die operative Temperatur als physiologisch effektives Mittel zwischen Wärmeabstrahlung der Oberflächen (~T4) und der sensiblen Raumlufttemperatur bestimmt das individuelle Komfortbefinden: Je niedriger der Isolationsstandard desto kälter die inneren Oberflächentemperaturen und desto höher die notwendige sensible Raumlufttemperatur, um den thermischen Komfort zu erreichen. Ein substanzieller Anteil der inneren Gebäudemasse, nämlich der Hüllenummantelung, erreicht dabei nur Temperaturen, die bis zu mehreren K unter typischen Komforttemperaturen liegen. Diese Massen bilden damit eine Art permanentes Kühlreservoir. Unerwartete, nicht willentlich initiierte Energieeinträge – wie solare Einstrahlung – repräsentieren in diesem Kontext willkommene temporäre Kleinerwärmungen. Andererseits werden Wärmeverluste (z. B. nach dem Lüften) als Kälteerlebnisse schnell bemerkt.

Anschließend liegen sowohl Raumluft als auch Teile der Gebäudemasse deutlich (und ggf. einige Zeit) unter Komfortniveau und müssen – vorwiegend durch dauerhafteres Heizen – wieder erwärmt werden. Im Gegensatz dazu herrscht in modernen Gebäuden generell ein höheres Temperaturniveau, ebenso in einem relativ größeren Anteil der internen Gebäudemasse (siehe Bild 7).

Wärmeverbrauch Reboundeffekt GIBild 7: Schema exemplarischer Innenraumtemperaturen von Raumluft, Überflächen und inneren Gebäudemassen, typisch für Altbauten (links) und modern isolierte Gebäude (EnEV-2009 oder PAH, rechts). Die Unterschiede führen zu zusätzlich gespeicherten Wärmemengen von 10–15 kWh pro Wohnraum gegenüber klassischen Altbauten.

Komfortniveau auch ohne Heizkörper

Alle inneren Oberflächen und die Raumluft unterscheiden sich hier nur durch wenige Zehntel Kelvin Differenz. Weil der dauerhafte Energieabfluss nach außen sehr viel kleiner ausfällt, bildet sich praktisch kein Kältereservoir, sodass zusätzliche innere Wärmegewinne zu zügigem und deutlichem Raumtemperaturanstieg führen. Da sich aber die Raumtemperatur bereits auf Komfortlevel befindet, kommt es häufiger zu ungewollter Luftüberwärmung und bei längerer Dauer auch zur Überwärmung der inneren Gebäudemassen mit entsprechender Speicherwirkung. Diese Ausgangslage unterminiert die Nutzbarkeit unvorhergesehener Wärmegewinne durch Solareinstrahlung und/oder beispielsweise Wärmeabgabe an die Wohnung durch Warmwasserkonsum. Diese Beiträge wirken dann – im Sinne von Komforterhaltung – übersättigend und kontraproduktiv, also unbehaglich. Sie sind das Gegenteil von nutzbar, nämlich unerwünscht und müssen wieder abgeführt werden.

Wenn Wärmeleckagen durch geöffnete Fenster oder Türen entstehen, kann es lange dauern, bis diese überhaupt zu Diskomfort führen, denn das große Wärmereservoir der inneren Gebäudemasse (auf Komfortlevel) kann die kalten, aber relativ kleinen Luftmassen über längere Zeit effektiv kompensieren. Nach dem Schließen eines Fensters wird die Raumluft innerhalb weniger Minuten zurück auf Komfortniveau gehoben, häufig sogar ohne jeden weiteren Einsatz eines Heizkörpers.

Achtung, Überwärmung!

Um diese Mechanismen quantitativ zu verdeutlichen, hilft es, den Masseunterschied zwischen der Raumluft und dem Gebäude zu betrachten: Dessen Verhältnis liegt bei 1:300 – 1:500. Für beispielsweise ein modernes Gebäude mit 600 m² Wohnfläche berechnen sich Raumluftvolumen, ­masse und zusätzlich gespeicherte Wärmemenge (bei angenommenen 3 K Temperaturdifferenz, z. B. 19 – 22 °C) zu 1.500 m³, 1.800 kg und 6.000 kJ oder 1,8 kWh. Für die effektiv wirksame innere Gebäudemasse (mit der Annahme von Stahlbeton für Böden und Ziegelwerk für Wände) errechnen sich 400 m³, 800.000 kg und 2.400 GJ oder 700 kWh zusätzlich an verfügbarer Wärmeenergie im Kontrast zu einem klassischen Altbau mit (nur an den nach außen gerichteten) kälteren Innenwandoberflächen. Die zusätzlich gespeicherte Wärme pro Wohnraum (angenommen 40 – 45 Räume wie in der Fallstudie) betrüge dann 10 –15 kWh, entsprechend in etwa dem Zehnfachen dessen, was ein Heizkörper über eine Stunde hinweg an Leistung abgeben würde.

In Summe sind also Kälteerfahrungen in modernen Gebäuden als selten anzunehmen und schwer zu provozieren, während sich eine Überwärmung recht häufig einstellt. Ein offenes Fenster in einem homogen mit 22 °C durchwärmten EnEV­-2009-­Gebäude oder Passivhaus bewirkt einen vollkommen anderen Effekt, als in einem Altbau mit eher unkomfortablen Innenwandtemperaturen um 18 °C oder weniger. So zeigen aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen, dass sich beispielsweise nach einer Sanierung das Lüftungsverhalten schnell und deutlich ändert, während das Heizverhalten zunächst stabil bleibt [4]. Insgesamt kann eine große Varianz von Reaktionsweisen und Komfortbedürfnissen der Nutzer festgehalten werden, die im Widerspruch zu einem Einheitsbenutzer und zur Behaglichkeitsnorm steht, die den aktuellen Baustandards zugrunde liegt. Daher kommt es immer wieder zur Überwärmung von Innenräumen in modernen Gebäuden, was zu Unbehaglichkeitserfahrungen führen kann, sofern nicht durch spontanes Fensteröffnen direkt und (wichtig!) schnell erfahrbar eine komfortablere Situation herbeigeführt werden kann.

Wenn andererseits die Bewohner moderner Gebäude kaum noch Kälteerlebnisse erfahren, erscheint es folgerichtig, dass ein signifikanter Anteil offener Fenster oder Türen auch über längere Zeitintervalle nicht als unangenehm wahrgenommen wird. Wenn solche Intervalle mitunter Stunden bis Tage andauern, entweicht ein substanzieller Anteil der Pufferenergie des Gebäudes in die Umwelt. Die Öffnung einer thermisch gut isolierten Gebäudehülle erzeugt ein typisches Rebound­-Wohnszenario: „Angenehm temperierte, warm strahlende Umgebung kombiniert mit allzeit kühler, frischer Luftbrise“.


5. Lösungsansätze

Heizenergieeinsparung durch immer aufwendigere und kostspieligere Dämmung ist also nur bedingt erfolgversprechend. In der Breite können simplere Lösungen zu besseren Resultaten führen. Dazu gehören:

  • die Vermeidung unbeabsichtigter Wärmeablüftung durch offene Fenster
  • die Vermeidung von Überwärmung durch weniger träge Beheizungssysteme
  • eine Wiedereinführung von „Hotspots“ (wie z.B. IR-­Strahler), um für die Bewohner ein Bio-Feedback herzustellen

Es wäre hilfreich für zukünftiges Energiemanagement, dem Bewohner die aktuellen und akkumulierten Energieabgabeverhältnisse zu visualisieren und mehr Kontrollautonomie an die Systemtechnik im Hintergrund zu delegieren (z. B. um unwillkürliche Ablüftung zu vermeiden).

Eine weiterführende Idee dazu ist, variabel programmierbare Schnittstellen der Mensch­Maschine­-Interaktion zu schaffen, die sowohl das Erfordernis der Energieeinsparung als auch die variablen Komfortbedürfnisse der Bewohner und ihre Steuerungswünsche berücksichtigen können. Ein solches hochvariables Konzept kann – allgemein im Rahmen der aufkommenden Wohnungsdigitalisierung – auf viele weitere Aktivitäten über das reine Energiemanagement hinaus ausgedehnt werden. Mögliche Synergien durch die bereichsübergreifende Kopplung mit modernisierter Wohnungsverwaltung und unterstütztem Wohnen durch medizinische und soziale Assistenzangebote (AAL) wären bewusst angestrebte Effekte, um auch den altersgerechten Umbau von Wohnlandschaften wirksam zu unterstützen.

Eine ausgedehntere praxisorientierte soziologische Untersuchung der hier behandelten Wohnumgebungen ist Gegenstand einer aktuell laufenden interdisziplinären Folgestudie. Neben dem energetischen Langzeit-­Monitoring im Hintergrund werden die sechs Gebäude differenzierter hinsichtlich der Variation von Heizungs­ und Lüftungsanlagen bewertet sowie die individuellen Nutzerbeobachtungen, ­anforderungen und ­befindlichkeiten in Interaktion mit der Haustechnik nachgefragt und diskutiert. In diesem Kontext erhofft man sich detailliertere Belege für die diskutierte Interpretation des Rebound-­Effektes.

Literatur

[1] Greller, M., Schröder, F., Hundt, V., Mundry, B., Papert, O.: Universelle Energiekennzahlen für Deutschland – Teil II: Verbrauchskennzahlenentwicklung nach Baualtersklassen. Bauphysik 32 (2010), Heft 1.

[2] Walberg, D. , T. Gniechwitz, M. Halstenberg: Kostentreiber für den Wohnungsbau­Untersuchung und Betrachtung der wichtigsten Einflussfaktoren auf die Gestehungskosten und auf die aktuelle Kostenentwicklung von Wohnraum in Deutschland, 2015; Studie der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen e.V., Walkerdamm 17, 24103 Kiel, mail@arge­sh.de.

[3] Weber, I., Schönemann, M., Farny, A., Schröder, F., Wolff, A., Gill, B.: Explaining Flat­Specific Heating Energy Consumption by Building Physics and Behaviour. An Interdisciplinary Approach 2017; LoPa Working Paper Series No. 1, München; www.lokale­passung.de/wp­content/uploads/2017/05/ WP_calculator.pdf.

[4] F. Schröder, B. Gill, M. Güth, T. Teich, A. Wolff: Entwicklung saisonaler Raumtemperaturverteilungen von klassischen zu modernen Gebäudestandards – Sind Reboundeffekte unvermeidbar? Bauphysik 03/2018, Juni.

[5] Ingenieure Süd GmbH: Nachweis des Wärmeschutzes nach der EnEV und nach DIN 4108, DIN EN 832 und DIN 4701­10. Dokumentation Projekt Nr. I­0206 BV: Riem Messestadt, WA 2 und 4, München 2007.

[6] Lexikon der Nachhaltigkeit: Rebound­-Effekt. www.nachhaltigkeit.info/artikel/rebound_effekt_1822. htm, (abgerufen am 29.11.2018)

[7] vgl. beispielsweise DIN EN ISO 7730: Ergonomie der thermischen Umgebung – Analytische Bestimmung und Interpretation der thermischen Behaglichkeit durch Berechnung des PMV-­ und des PPD-­Indexes und Kriterien der lokalen thermischen Behaglichkeit (ISO 7730:2005); Deutsche Fassung EN ISO 7730:2005. Beuth Verlag GmbH Berlin.

[8] Wolff, A., Weber, I., Gill, B., Schubert, J., Schneider, M.: Tackling the interplay of occupants’ heating practices and building physics: Insights from a German mixed methods study. Energy Research & Social Science (2017), Vol. 32, 65­75. (DOI: 10.1016/i.erss.2017.07.003).

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