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Fachbeitrag: Ist der Rebound-Effekt unvermeidbar?

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4. Diskussion des Rebound-Effekts

Zusammen mit den Bilanzierungen des Heizenergiekonsums impliziert das beschriebene mittlere Lüftungsverhalten, dass in den Häusern – hauptsächlich wohl neben der Hauptheizsaison während der Übergangszeiten in April, Mai, September und Oktober – substanzielle Mengen an (kostenpflichtiger) Heizenergie über den theoretischen Bedarf hinaus in die Gebäudehülle aufgenommen und ein mittlerer Anteil von etwa 16 MWh/Gebäude/a (2 MWh pro Wohnung) als temporär nicht nutzbare Heizenergie via Fensteröffnung wieder abgelüftet werden muss, um die Balance des beobachteten Zustandes herzustellen. Dabei liegt der theoretische Heizenergiebedarf nach EnEV bei etwa 44 MWh/Gebäude/a (5,5 MWh pro Wohnung), der beobachtete reale Verbrauch dagegen nahe bei 60 MWh/ Gebäude/a (7,5 MWh pro Wohnung). Dies folgt aus den Analysen, das heißt dem energetischen Begleitmonitoring der Feldmessungen (siehe Bild 4) im Vergleich mit der objektbezogenen Energiebedarfsberechnung [5].

Die ausschlaggebenden Fragen sind:

  • Warum finden wir so häufig in modern isolierten Gebäudefassaden weit geöffnete Fensterfronten vor? Müssen wir davon ausgehen, dass gerade diese Konstellation einen bevorzugten Wohnkomfort erzeugt?
  • Wie beeinflusst die Fensteröffnungspraxis konkret das menschliche Behaglichkeitsempfinden?
  • Ist der beschriebene Effekt auf ein Fehlverhalten der Nutzer zurückzuführen oder ist er unwillkürlich und unvermeidlich?

Gängige Auffassungen in der Wohnungswirtschaft deuten bei Problemen mit dem Heizsystem meist auf zwei schlechte Typen von Wohnungsnutzern: Solche, die außergewöhnlich hohen Energieverbrauch verursachen, also Verschwender, und jene, die kaum oder keine erfasste Heizenergie verbrauchen und als Trittbrettfahrer und Schimmelzüchter missbilligt werden. Zudem unterliegt heutigen Baustandards die Vorstellung von überall hohen Raumtemperaturen als erstrebenswertem Komfort. Moderate bis geringe Temperaturen werden dagegen als Mangel aufgefasst. Solch vereinfachende Ansichten unterstellen schlechte Vorsätze oder menschliche Stereotypen, lenken oft von technischen Unvollkommenheiten ab und verstellen den Blick auf eine weit höhere Komplexität von Wohnszenarios verschiedener Bewohnertypen mit ihren unterschiedlichen und wechselnden Komfortbedürfnissen. Diese unterliegen nicht nur historischem Wandel, sondern weisen mitunter deutliche regionale Unterschiede auf und hängen von den individuellen Erfahrungen der Bewohner ab. Folgende Typologie wurde beispielsweise von [2] entwickelt:

  • Eisbären: Menschen mit deutlich reduzierten Wohlfühltemperaturen
  • Sparfüchse: Personen, die es gern wärmer hätten, aber sparen wollen/müssen
  • Lüftungsfanatiker: oft Raucher
  • Ofenanbeter: Menschen mit deutlich erhöhtem Wärmebedarf
  • Kontrollfreaks: Personen, die erheblichen Aufwand mit Messung und Einstellung betreiben

In der großen Varianz von Komfortbedürfnissen der Haushalte kann daher eine kühlere Wohnung durchaus als angenehm oder optimal empfunden werden [2]. Eine zu warme Wohnung kann andererseits durchaus auch Diskomfort bedeuten. Heutige Baustandards, denen eine Behaglichkeitsnorm von 20 – 21 °C zugrunde liegt [7], bewirken höhere und homogenere Innenraumtemperaturen, wie die vorangegangenen Beobachtungen belegen. Dadurch geht in modernen Wohnumgebungen die klassische Diversität möglicher Komfortszenarios schrittweise verloren. Dies liegt auch darin begründet, dass in Altbauten ein größerer Temperaturgradient zwischen Außenwänden und Raumluft besteht und sich folglich stärkerer kontinuierlicher Wärmefluss ausbildet.

Die operative Temperatur als physiologisch effektives Mittel zwischen Wärmeabstrahlung der Oberflächen (~T4) und der sensiblen Raumlufttemperatur bestimmt das individuelle Komfortbefinden: Je niedriger der Isolationsstandard desto kälter die inneren Oberflächentemperaturen und desto höher die notwendige sensible Raumlufttemperatur, um den thermischen Komfort zu erreichen. Ein substanzieller Anteil der inneren Gebäudemasse, nämlich der Hüllenummantelung, erreicht dabei nur Temperaturen, die bis zu mehreren K unter typischen Komforttemperaturen liegen. Diese Massen bilden damit eine Art permanentes Kühlreservoir. Unerwartete, nicht willentlich initiierte Energieeinträge – wie solare Einstrahlung – repräsentieren in diesem Kontext willkommene temporäre Kleinerwärmungen. Andererseits werden Wärmeverluste (z. B. nach dem Lüften) als Kälteerlebnisse schnell bemerkt.

Anschließend liegen sowohl Raumluft als auch Teile der Gebäudemasse deutlich (und ggf. einige Zeit) unter Komfortniveau und müssen – vorwiegend durch dauerhafteres Heizen – wieder erwärmt werden. Im Gegensatz dazu herrscht in modernen Gebäuden generell ein höheres Temperaturniveau, ebenso in einem relativ größeren Anteil der internen Gebäudemasse (siehe Bild 7).

Wärmeverbrauch Reboundeffekt GIBild 7: Schema exemplarischer Innenraumtemperaturen von Raumluft, Überflächen und inneren Gebäudemassen, typisch für Altbauten (links) und modern isolierte Gebäude (EnEV-2009 oder PAH, rechts). Die Unterschiede führen zu zusätzlich gespeicherten Wärmemengen von 10–15 kWh pro Wohnraum gegenüber klassischen Altbauten.

Komfortniveau auch ohne Heizkörper

Alle inneren Oberflächen und die Raumluft unterscheiden sich hier nur durch wenige Zehntel Kelvin Differenz. Weil der dauerhafte Energieabfluss nach außen sehr viel kleiner ausfällt, bildet sich praktisch kein Kältereservoir, sodass zusätzliche innere Wärmegewinne zu zügigem und deutlichem Raumtemperaturanstieg führen. Da sich aber die Raumtemperatur bereits auf Komfortlevel befindet, kommt es häufiger zu ungewollter Luftüberwärmung und bei längerer Dauer auch zur Überwärmung der inneren Gebäudemassen mit entsprechender Speicherwirkung. Diese Ausgangslage unterminiert die Nutzbarkeit unvorhergesehener Wärmegewinne durch Solareinstrahlung und/oder beispielsweise Wärmeabgabe an die Wohnung durch Warmwasserkonsum. Diese Beiträge wirken dann – im Sinne von Komforterhaltung – übersättigend und kontraproduktiv, also unbehaglich. Sie sind das Gegenteil von nutzbar, nämlich unerwünscht und müssen wieder abgeführt werden.

Wenn Wärmeleckagen durch geöffnete Fenster oder Türen entstehen, kann es lange dauern, bis diese überhaupt zu Diskomfort führen, denn das große Wärmereservoir der inneren Gebäudemasse (auf Komfortlevel) kann die kalten, aber relativ kleinen Luftmassen über längere Zeit effektiv kompensieren. Nach dem Schließen eines Fensters wird die Raumluft innerhalb weniger Minuten zurück auf Komfortniveau gehoben, häufig sogar ohne jeden weiteren Einsatz eines Heizkörpers.

Achtung, Überwärmung!

Um diese Mechanismen quantitativ zu verdeutlichen, hilft es, den Masseunterschied zwischen der Raumluft und dem Gebäude zu betrachten: Dessen Verhältnis liegt bei 1:300 – 1:500. Für beispielsweise ein modernes Gebäude mit 600 m² Wohnfläche berechnen sich Raumluftvolumen, ­masse und zusätzlich gespeicherte Wärmemenge (bei angenommenen 3 K Temperaturdifferenz, z. B. 19 – 22 °C) zu 1.500 m³, 1.800 kg und 6.000 kJ oder 1,8 kWh. Für die effektiv wirksame innere Gebäudemasse (mit der Annahme von Stahlbeton für Böden und Ziegelwerk für Wände) errechnen sich 400 m³, 800.000 kg und 2.400 GJ oder 700 kWh zusätzlich an verfügbarer Wärmeenergie im Kontrast zu einem klassischen Altbau mit (nur an den nach außen gerichteten) kälteren Innenwandoberflächen. Die zusätzlich gespeicherte Wärme pro Wohnraum (angenommen 40 – 45 Räume wie in der Fallstudie) betrüge dann 10 –15 kWh, entsprechend in etwa dem Zehnfachen dessen, was ein Heizkörper über eine Stunde hinweg an Leistung abgeben würde.

In Summe sind also Kälteerfahrungen in modernen Gebäuden als selten anzunehmen und schwer zu provozieren, während sich eine Überwärmung recht häufig einstellt. Ein offenes Fenster in einem homogen mit 22 °C durchwärmten EnEV­-2009-­Gebäude oder Passivhaus bewirkt einen vollkommen anderen Effekt, als in einem Altbau mit eher unkomfortablen Innenwandtemperaturen um 18 °C oder weniger. So zeigen aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen, dass sich beispielsweise nach einer Sanierung das Lüftungsverhalten schnell und deutlich ändert, während das Heizverhalten zunächst stabil bleibt [4]. Insgesamt kann eine große Varianz von Reaktionsweisen und Komfortbedürfnissen der Nutzer festgehalten werden, die im Widerspruch zu einem Einheitsbenutzer und zur Behaglichkeitsnorm steht, die den aktuellen Baustandards zugrunde liegt. Daher kommt es immer wieder zur Überwärmung von Innenräumen in modernen Gebäuden, was zu Unbehaglichkeitserfahrungen führen kann, sofern nicht durch spontanes Fensteröffnen direkt und (wichtig!) schnell erfahrbar eine komfortablere Situation herbeigeführt werden kann.

Wenn andererseits die Bewohner moderner Gebäude kaum noch Kälteerlebnisse erfahren, erscheint es folgerichtig, dass ein signifikanter Anteil offener Fenster oder Türen auch über längere Zeitintervalle nicht als unangenehm wahrgenommen wird. Wenn solche Intervalle mitunter Stunden bis Tage andauern, entweicht ein substanzieller Anteil der Pufferenergie des Gebäudes in die Umwelt. Die Öffnung einer thermisch gut isolierten Gebäudehülle erzeugt ein typisches Rebound­-Wohnszenario: „Angenehm temperierte, warm strahlende Umgebung kombiniert mit allzeit kühler, frischer Luftbrise“.

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